Thu, Nov 17, 2022
In der Stadt Lügde in Nordrhein-Westfalen herrscht Fassungslosigkeit, als bekannt wird, dass im Ort seit Jahren zwei Männer mindestens 32 Kindern sexualisierte Gewalt angetan haben sollen. Die Opfer: Kinder zwischen vier und 13 Jahren. Der Tatort: ein unscheinbarer Campingplatz im Ortsteil Elbrinxen von Lügde. Dort wohnt der Haupttäter Andreas V. in einem Campingwagen, umbaut mit Holzbaracken. Auf der Parzelle türmt sich Gerümpel, im Inneren stapeln sich Müll, Schrott und dreckige Wäsche. An den Wänden hängen zahlreiche Bilder - gemalt von Kindern. Tatsächlich ist der Campingplatz für die Kinder äußerlich eine Oase des Glücks. Andreas V. kauft ein Quad, mit dem er mit den Kindern über den Campingplatz braust. Er veranstaltet für die Kinder Lagerfeuer mit Stockbrot, organisiert Ausflüge, besucht mit ihnen das nahe gelegene Schwimmbad.
Thu, Nov 17, 2022
Andreas V. ist glücklich: Das Jugendamt Hameln-Pyrmont hat ihm die Pflegschaft für ein sechsjähriges Mädchen übertragen. Nach neun Monaten Eignungsprüfung ist er nun endlich Papa, verkündet er fröhlich. Auf dem Campingplatz wundert man sich darüber, dass ein 56-jähriger, arbeitsloser Mann, der in einem Campingwagen mit Holzverschlag lebt, von Amtswegen die Fürsorge für ein Kind bekommt. Doch man weiß auch: Das Amt hat alles geprüft, auch die Wohnverhältnisse auf dem Campingplatz. Alles wird seine Richtigkeit haben, vor allem auch, weil die leibliche Mutter des Mädchens Andreas V. als Pflegevater vorgeschlagen hat. Tatsächlich prüft das Jugendamt Hameln-Pyrmont die Pflegeeigenschaften von Andreas V., schaut in das Leben des 56-jährigen Arbeitslosen. Die vermüllte Behausung auf dem Camping-Platz fällt auf. Doch später wird der Leiter des Jugendamts aussagen, dass das Jugendamt täglich noch schlechtere Wohnbedingungen sieht. Entscheidend sei auch nicht das Wohnumfeld, sondern die Beziehung von Pflegevater und Kind. Das Verhältnis sei sehr gut gewesen. Die Kleine fühlte sich bei Andreas V. sichtlich wohl und nannte ihn ohnehin schon Papa. Eine Sonderermittlerin bringt im Untersuchungsausschuss auf den Punkt, was die Verantwortlichen von sich weisen: Es gab mindestens vier Hinweise darauf, dass Andreas V. völlig ungeeignet als Pflegevater sei. Vor allem, weil nicht nur aktuell Hinweise auf Pädophilie vorlagen. Beim Jugendamt wusste man nachweislich von der sexuellen Störung von Andreas V. Die Staatsanwaltschaft entdeckt, dass der Verdacht in einem sogenannten Genogramm über Andreas V. beim Jugendamt bereits aufgenommen wurde. Dieses Genogramm wurde gelöscht, als der Missbrauch aufflog. Weitere Akten manipuliert. Das eigene Versagen sollte vertuscht werden.
Thu, Nov 17, 2022
Der Täter Andreas V, ist dingfest gemacht, alle Opfer sind befreit. Wo herkömmliche Kriminalerzählungen enden, beginnt dieser Fall eigentlich erst richtig - und wie in den Folgen zuvor, mit unbegreiflichem Behördenversagen. Es sind zwar keine Minderjährigen mehr in unmittelbarer Gefahr, doch nun zeigt sich, dass Kindesmissbrauch auch in der Strafermittlung ein blinder Fleck ist. Eine Mischung aus Amateurhaftigkeit, Nachlässigkeit und Kompetenzgerangel hinterlässt den fatalen Eindruck, dass Pädophile wie Andreas V. leichtes Spiel haben. Man hätte Ansätze für viele weitere Ermittlungen gehabt - nur ist eine Behörde, die Beweismittel entweder nicht ernst nimmt, übersieht, verschlampt und möglicherweise auch vorsätzlich wegschafft, augenscheinlich nicht in der Lage, der Pädophilie die Stirn zu bieten. Die Polizei scheint Hinweise auf Andreas V. auf ganzer Linie zu ignorieren. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul fällt schon im Februar 2019 sein Urteil über die Kreispolizei in Lippe: "Das wäre selbst meiner Oma aufgefallen, dass auf dem Campingplatz was nicht stimmt." Bereits am Tag der Verhaftung im Dezember 2018 stellt die Polizei bei Andreas V. über 150 Datenträger in einem Aluminiumkoffer sicher. Ein junger Polizeianwärter bei der Kreispolizei Lippe wird beauftragt, die Beweismittel zu sichern. Unklar ist bis heute, wer ihm den Auftrag dazu gegeben hat. Der Student sichtet die 155 DVDs und CDs in wenigen Stunden und kopiert davon ganze drei Datenträger. Danach beachtet er den Koffer nicht mehr. Bis am 30.Januar 2019, dem Tag der Bekanntgabe des Missbrauchsfalls, plötzlich von dem Koffer jede Spur fehlt. Er ist weder im Büro, wo ihn der Polizeianwärter kurz vor Weihnachten abgestellt hat, noch in der Asservatenkammer, wo er eigentlich hingehört. Der Koffer ist weg und taucht nie wieder auf.
Thu, Nov 17, 2022
Beim Prozess kommen weitere Details aus dem Leben von Andreas V. ans Licht. Welches Versagen jenseits von Behörden und Strafverfolgung hat zu den Taten geführt? Und was bedeutet es für den Rest eines Lebens, wenn die eigene Kindheit geprägt von sexualisierter Gewalt war. Am 5.September 2019 fällt das Landgericht Detmold das Urteil über Andreas V. und seinen Mittäter Mario S.: 13 und 12 Jahre Gefängnis mit anschließender Sicherungsverwahrung für die Männer, die über viele Jahre systematisch mindestens 32 Kinder missbraucht haben. 400 Taten sind aktenkundig, vermutlich waren es weit mehr. Für die Richterin stellt sich eine weitere Frage, die sie an die Beobachter im Saal richtet: "Warum konnten diese Taten inmitten unserer Gesellschaft so lange unentdeckt bleiben?" Die jüngsten Opfer sind vier und fünf Jahre alt, so klein, dass sie das Geschehen gar nicht einordnen konnten. Nachts träumen manche der Kinder von Killer-Clowns. Sie haben Schwierigkeiten, Gut und Böse voneinander zu unterscheiden. Ihre Leistungen in der Schule sacken ab. Am meisten Angst haben sie aber davor, dass die Täter aus dem Gefängnis ausbrechen und ihren Familien etwas antun könnten.